Jochem Hendricks (geb. 1959) zeichnet nicht mit der Hand, sondern mit den Augen. Mit Hilfe einer für diesen Zweck konstruierten Apparatur aus einem Helm, Infrarotstrahlen, Videokameras und Computer produzieren seine Augen Zeichnungen von dem, was sie betrachten oder lesen: eine Zeitung, eine Tasse, ein Aktfoto. Das Verfahren ist eine Metapher: nach alltagspraktischer Auffassung nimmt das Auge die Außenwelt auf und bildet sie im Gehirn ab. Tatsächlich aber ist das Auge kein passives, sondern ein sehr aktives, produktives Organ. Die herkömmliche Vorstellung von der Passivität des Auges beruht auf der analytischen Abtrennung der Gehirntätigkeit. Seit Kant wissen wir, dass die Außenwelt als solche uns nicht zugänglich ist, sondern nur subjektiv, d. h. über die aktive Vermittlung unserer Wahrnehmung. Ebenso wie Sprechen und Denken hängen auch Denken und Sehen eng zusammen. Demgegenüber ist die zeichnende Hand ein lediglich ausführender Körperteil und ihre Tätigkeit – verglichen mit dem Sehen – eine nur sekundäre. Hendricks Verfahren emanzipiert sich von der traditionellen Zeichentechnik, die von Seelenlagen, Geschicklichkeit und Zufällen abhängt. Befreit von der oft eigenwilligen Ausdrucksbewegung der Hand, will der Künstler größtmögliche Objektivität erreichen. Die Kunstherstellung birgt kein Geheimnis mehr. Die Originalität liegt im Konzept, nicht mehr in der Ausführung. Eine andere merkwürdige Arbeit sind die Sandkörner. Hendricks hat zusammen mit 12 Helfern 3.281.579 Sandkörner gezählt. Das hat etwa 1.000 Stunden gedauert. Die handverlesenen Körner sind in einem eiförmigen Glasbehälter ausgestellt. Äußerlich unterscheiden sich die Sandkörner nicht von anderen. Allein dadurch, dass man weiß, dass der Sandhaufen ein Produkt des Zählens ist, stellen die Körner diese anstrengende Arbeit dar. Und dadurch, dass man weiß, dass das Zählen ca. 1.000 Stunden gedauert hat, stellen die Körner auch diese Arbeitszeit dar. Man betrachtet sie nun nicht als Dreck, sondern als Resultat einer großen Anstrengung. Die Arbeit des Sandkörnerzählens ist als solche so sinnlos wie kaum eine andere. Denn ein kleiner Sandhaufen ist weder ein brauchbares noch ein schönes Produkt. Ihren Sinn erhält die so sinnlose Zählarbeit allein dadurch, dass sie sich vermittels des Sandhaufens selber darstellt – als Kunst. »Augenzeichnungen« und »Sandkörner« umspielen das Intersubjektivitätskriterium der Naturwissenschaften, nach welchen einer wissenschaftlichen Arbeit dann Objektivität zukommt, wenn sie unter sonst gleichen Bedingungen reproduzierbar ist: jedermann könnte mit Hendricks Verfahren Augenzeichnungen herstellen und jedermann könnte die Sandkörner nachzählen, sollte er bezweifeln, dass es tatsächlich 3.281.579 Körner sind. Der vielseitige Konzeptkünstler hat zuletzt mit einem Turm aus selbst geklauten Gegenständen großes Aufsehen erregt. Burkhard Brunn



 

1959 geb. in Schlüchtern / 1980–86 Studium
an der Städelschule, Frankfurt/Main / 1988 Jahresstipendium des Frankfurter Verein für Künstlerhilfe / 1990 Zeichenstipendium Nürnberg / 1993 Villa Romana-Preis / 1995 Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung / 2000 Sommer-Atelier Burgdorf (CH)


Ausstellungen (Auswahl)
2003 Sammlung Schürmann, K21 Kunstsammlung , Düsseldorf; »Figurine« (sans bras avec police), Galerie Thomas Rehbein, Köln / 2002 »Legal Crimes«, Kunstverein Freiburg / 2001 »010101«, San Francisco Museum of Modern Art; »Flash«, Kunsthalle St. Gallen und Galerie Susanna Kulli, St.Gallen; »Frankfurter Kreuz. Transformationen des Alltäglichen«, Schirn Kunsthalle Frankfurt; Szenenwechsel XX, Museum für Moderne Kunst Frankfurt / 2000 »3.281.579 Sand-körner«, MAK, Frankfurt; »Dive In«, Kunstpanorama Luzern; »3 Active Eye Tracker«, Expo 2000, Hannover; Szenenwechsel XVIII, MMK Frankfurt
www.jochem-hendricks.de

3.281.579 Sandkörner, 2000–01
Sand, Glas, 12,2 x 15,8 x 12,2 cm
Coutesy Thomas Rehbein, Köln