Die Blumenzeichnungen von Antje Schiffers (geb. 1967) sind Resultate eines anspruchs-vollen Projekts: die Künstlerin verwandte das Stipendium des Deutschen akademischen Auslandsdienstes (DAAD) dazu, an einem willkürlich ausgewählten Ort in Mexiko ein Jahr lang zu leben und zu arbeiten. Mexiko ist ein Land, das nach den von Hollywood geprägten Klischees wahrgenommen wird: Banditen, Sombreros, Pferde, Staub und Klapperschlangen. Schiffers wollte in diesem Klischee leben und es von innen aufbrechen. Sie wohnte in einer Hütte in Chicahuaxtla, einem Dorf in 3000 m Höhe, und begann dort, Blumen zu zeichnen, die um ihre Hütte, auf dem Weg, in den Bergen, auf den Bäumen wuchsen. Diese Orte, nach denen sie die Zeichnungen ordnete, sind zugleich Kategorien, nach denen sie sich die fremde Welt aneignete. Die Indios, die vorüberkamen und ihr zusahen, fanden sich bald bereit, über die Wirkungen der Pflanzen vor der Videokamera zu sprechen, und berichteten damit ganz unbefangen auch über ihr Leben. Die Künstlerin spricht Spanisch. Es gelang auf diese Weise, die wechselseitige Fremdheit durch eine herrschaftsfreie Kommunikation ein Stück weit abzutragen. Sie löste das klassische Problem der Ethnologen, den »Eingeborenen« nicht dominant zu begegnen, durch eine arbeitsteilige Kooperation: es standen sich gleichrangig zwei unterschiedliche Kompetenzen gegenüber, hier das Wissen über die Pflanzen, dort die Fähigkeit sie abzubilden. Die Kompetenzen ergänzen einander, und so wird das Anderssein nicht nur von vornherein respektiert, sondern zur Bedingung einer gemeinsamen Produktion. Die herkömmliche Weise der Annäherung bestand, wie man in den alten Berichten nachlesen kann, stets im Austausch von Gütern – nicht in einer ebenbürtigen Zusammenarbeit, deren Produkt hier einerseits die Blumenzeichnungen und andererseits die Kommentare der Indios sind. In einer zweiten Phase der Begegnung gab die Künstlerin einigen Indios Kameras, ließ sie ihr Leben und sich selber fotografieren (vier Fotos sind ausgestellt) und lehrte sie die Filme zu entwickeln. Auf diese Weise verhalf sie den Indios, die ihr Leben zum ersten mal objektiviert sahen, zu einer Selbstreflexion, die ein emanzipativer Schritt aus der archaischen Versunkenheit sein kann. Das genaue Gegenteil dieses Konzepts ist es, als Tourist von den Einheimischen Fotos zu nehmen und sie so zu Gegenständen fremder Betrachtung zu machen. Die Blumenzeichnungen sind der sichtbare Teil eines groß angelegten dokumentarischen Kunstwerks, das auch die Kommunikation mit den Indios umfasst. In Schiffers Projekten ist der Status des Künstler nicht der eines Kleinproduzenten, der den Kunstmarkt bedient, sondern eines Pioniers, der mit ungewöhnlichen Mitteln an den Rändern der abendländischen Gesellschaft Kontakte zu fremden Kulturen schafft. Der soziale Bezug ist von den Zeichnungen nie wegzudenken. Burkhard Brunn



  1967 geb. in Heiligendorf / 2002–04 Preis des Kunstvereins Hannover; Villa-Minimo-Stipendium / 1997–99 DAAD-Stipendium, Mexiko
Exhibitions (selection)
2004 Kunstverein Hannover; Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig (E.) / 2003 Cuxhavener Kunstverein (E.) »Biografie schreiben«, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig / 2002 »bin in der Steppe», Kunstverein Wolfsburg (E.); »re-orientation«, ACC-Galerie, Weimar; »Perspektiven«, Kunstverein Hannover / 2001 »Le repubblicche dell´Arte:Germania«, Centro Arte Contemporanea, Palazzo delle Papesse, Siena / 2000 »Da wo ich war«, Konstantin Adamopoulos, Frankfurt/M. (E.); »Unhomely home«, Projekte in Wolfsburg, Kunstverein Wolfsburg


Holunder, 2002 Buntstift auf Papier 29,7 x 21 cm